Multiple Sklerose und IgG-Antikörper gegen Casein

Multiple Sklerose ist eine chronische demyelinisierende Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, bei der sowohl im Gehirn als auch im Rückenmark chronische Entzündungen auftreten. Durch diese Entzündungen entstehen Nervenschäden, die Lähmungen, Müdigkeit oder auch Sehschäden verursachen können. Die Ursache dieser Krankheit ist nicht bekannt, aber man geht mittlerweile davon aus, dass das Epstein-Barr-Virus (EBV) ein möglicher Verursacher ist. Anhand der Daten von Millionen von US-Militärrekruten, die über einen Zeitraum von 20 Jahren beobachtet wurden, stellte man fest, dass eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus das Risiko, später an Multipler Sklerose zu erkranken, stark erhöht ist und der Entwicklung der Krankheit vorausgeht, was seine potenzielle Rolle bei der Pathogenese der Multiplen Sklerose untermauert. Experten schätzen allerdings, dass sich rund 95 % der europäischen Bevölkerung bis zum 30. Lebensjahr mit dem EBV infizieren und danach über ausreichend Antikörper gegen den Erreger verfügen. Daher müssen noch weitere Faktoren hinzukommen, damit die Krankheit ausbricht. So gibt es eine Vielzahl genetischer Veranlagungen, die das MS Risiko erhöhen. Dazu gehören der Vitamin D-Status, Rauchen und Übergewicht im Kindesalter. Auch die Ernährung spielt eine wichtige Rolle. Die Ernährungsimmunologie befasst sich mit dem Einfluss der Ernährung auf das Immunsystem. Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass lebensmittelspezifisches IgG an der Entstehung und dem Fortschreiten bestimmter Krankheiten beteiligt ist, wie z. B. entzündliche Darmerkrankungen, Reizdarmsyndrom, Migräne und psychische Erkrankungen. In unseren Newslettern der vergangenen Jahre haben wir regelmäßig über diese Erkenntnisse berichtet. In verschiedenen Studien wurde eine hohe Prävalenz von IgG-Antikörpern gegen bestimmte Nahrungsmittelallergene bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen festgestellt. Dementsprechend können IgG-Antikörper einen Hinweis auf den Krankheitsstatus geben und als Richtschnur für Ernährungsempfehlungen für Patienten dienen. Außerdem hatten Migränepatienten mit positiven lebensmittelspezifischen IgG-Antikörpern schlechtere Migräne-, Angst- und gastrointestinale Symptome. Auch bei Patienten mit depressiven Störungen wurden signifikant höhere Serumraten an lebensmittelspezifischen IgG-Antigenen festgestellt. Die Symptome dieser und anderweitiger Krankheiten können durch lebensmittelspezifische IgG-basierte Ernährungsempfehlungen gelindert werden. Immunreaktionen gegen körpereigene Strukturen sind das Kennzeichen aller Autoimmunerkrankungen. IgG-Antikörper können mit Allergenen in Lebensmitteln einen Immunkomplex bilden und so (chronisch schleichende) Entzündungsreaktionen im Körper auslösen, die sich in verschiedenen Symptomen und Erkrankungen äußern. Solche „molekulare Mimikry“-basierte Nahrungsmittel-Immunreaktivität tritt auf, wenn ein Nahrungsmittelprotein (oder –peptid) eine Sequenz von Aminosäuren aufweist, die der Struktur des eigenen Gewebes stark ähnelt. T- und B-Zellen werden aktiviert und es kommt zur Produktion von Antikörpern, die sowohl mit den fremden Nahrungsmittelproteinen reagieren als auch mit körpereigenen Proteinen verschiedener Gewebearten. Das Hauptmerkmal der Multiplen Sklerose ist die Zerstörung der Hüllstrukturen neuronaler Axone durch das körpereigene Immunsystem. Diese Zerstörung nimmt im Krankheitsverlauf weiter zu. Bereits in den 1970er Jahren wurde der Milchkonsum als ein ätiologischer Faktor der MS vermutet. Man ging davon aus, dass ein Zusammenhang besteht zwischen hohem Milchkonsum in der Kindheit, gefolgt von einem starken oder plötzlichen Rückgang während des Wachstumsschubs in der Jugend, und dem späteren Auftreten von MS bei jungen Erwachsenen. Die MS-Raten sind erhöht in Bevölkerungsgruppen, in denen viel Kuhmilch konsumiert wird. Wie der Milchkonsum jedoch Autoimmunreaktionen auf ZNS-Antigene auslöst und zur Krankheitsentwicklung beitragen könnte, blieb bisher unklar. Dem Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) wird eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Myelinscheide von Neuronen zugeordnet. Das Interesse für MOG liegt vor allem in seiner Rolle im Zusammenhang mit MS und anderen demyelinisierenden Erkrankungen. Diverse Studien zeigten einen Zusammenhang zwischen Antikörpern die gegen dieses Protein gerichtet sind und der Pathogenese der MS. In Tiermodellen konnte man nachweisen, dass gegen MOG gerichtete Antikörper die Fähigkeit besitzen, die Demyelinisierung auszulösen. Bereits vor 20 Jahren wurde nachgewiesen, dass bestimmte Bereiche des MOG-Proteins eine große Ähnlichkeit aufweisen mit Butyrophilin (BTN), einem Milchprotein. In Tierversuchen wurde gezeigt, dass es zu Kreuzreaktionen kommen kann zwischen bestimmten MOG-Antikörpern und dem Kuhmilchprotein BTN. Doch BTN ist nicht das einzige immunologisch relevante Protein. Kuhmilch enthält insgesamt 3,2 % Protein, das zu ca. 80 % aus Caseinen besteht. Casein ist eines der Hauptallergene der Milch. In einer neuen Studie, mit Beteiligung der Universität Bonn wurde nachgewiesen, dass eine Immunreaktion gegen Casein die demyelinisierende Pathologie der MS aufgrund der Ähnlichkeit mit dem Myelin-assoziierten Glykoprotein (MAG) verschlimmern kann. MAG ist (wie MOG) für die Interaktionen des Axons mit den Myelinbildenden Zellen verantwortlich. Der Anstoß für die Studie kam von den MS-Patienten selbst: „Wir hören immer wieder von Betroffenen, dass es ihnen schlechter geht, wenn sie Milchprodukte zu sich nehmen“, erklärte Stefanie Kürten vom Anatomischen Institut des Universitätsklinikums Bonn. So sind die Wissenschaftler den Ursachen für diesen Zusammenhang nachgegangen. Die Studie ergab, dass die B-Zellen im Blut von Menschen mit MS besonders stark auf Casein reagieren. Vermutlich haben die Betroffenen irgendwann durch den Konsum von Milch eine Immunreaktion gegen Casein entwickelt. Sobald sie frische Milchprodukte zu sich nehmen, produziert das Immunsystem massenhaft Casein-Antikörper. Die mittleren IgG-Titer gegen Casein waren bei Patienten mit MS deutlich höher als bei Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen. Aufgrund der Kreuzreaktivität mit MAG kommt es so bei den MS-Patienten zur demyelinisierenden Schädigung der Myelinscheide um die Nervenfasern. MS-Patienten sollten daher auf den Verzehr von Milchprodukten verzichten. Es ist möglich, dass Kuhmilch auch bei gesunden Menschen das Risiko erhöht, an MS zu erkranken. Denn Casein kann auch bei ihnen Allergien auslösen – was wahrscheinlich nicht einmal so selten ist. Sobald eine solche Immunreaktion besteht, kann es theoretisch zu einer Kreuzreaktivität kommen. Das bedeute aber nicht, dass eine Überempfindlichkeit gegen Casein zwangsläufig zur Entwicklung von Multipler Sklerose führe, betonen die Bonner Wissenschaftler. Zusammengenommen zeigen diese Ergebnisse, wie der Konsum von Milch und Milchprodukten die Autoimmunreaktion bei MS verschlimmern kann. Quellen 1. Chunder, R. et al. Antibody cross-reactivity between casein and myelin-associated glycoprotein results in central nervous system demyelination. Proc Natl Acad Sci U S A 119, (2022). 2. Milk may exacerbate MS symptoms: Cow’s milk protein triggers autoimmune response in mice that damages neurons — ScienceDaily. https://www.sciencedaily.com/releases/2022/03/220301131110.htm. 3. Milk may exacerbate MS symptoms — University of Bonn. https://www.uni-bonn.de/en/news/042-2022. 4. Rojas, M. et al. Molecular mimicry and autoimmunity. J Autoimmun 95, 100–123 (2018). 5. Jarius, S. et al. MOG-IgG in primary and secondary chronic progressive multiple sclerosis: A multicenter study of 200 patients and review of the literature. Journal of Neuroinflammation 15, (2018). 6. Ramanathan, S., Dale, R. C. & Brilot, F. Anti-MOG antibody:…

Reizdarmsyndrom – Linderung durch Meidung IgG-reaktiver Lebensmittel

Das Reizdarmsyndrom (IBS) ist eine weit verbreitete komplexe klinische Erkrankung, die durch chronische Bauchschmerzen oder -beschwerden und veränderte Stuhlgewohnheiten gekennzeichnet ist, ohne dass strukturelle oder metabolische Anomalien vorliegen. Aufgrund der Symptome hat das Reizdarmsyndrom erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität, und es wird angenommen, dass etwa 12 % der Weltbevölkerung davon betroffen sind. Trotz der Prävalenz und der Krankheitslast sind die Pathophysiologie und alle zugrundeliegenden Mechanismen nach wie vor weitgehend unklar, was teilweise auf die multifaktorielle Ätiologie zurückzuführen ist. Es ist bekannt, dass genetische und umweltbedingte Faktoren bei der Entstehung des Reizdarmsyndroms eine Rolle spielen. Es mehren sich immer mehr Hinweise darauf, dass Immunität und Entzündung sowohl bei der Entstehung als auch beim Fortbestehen der Krankheit eine Schlüsselrolle spielen. Darüber hinaus wurde nachgewiesen, dass bei Patienten mit Reizdarmsyndrom eine veränderte systemische Immunreaktion mit der Freisetzung von entzündungsfördernden Zytokinen wie B-Zell-aktivierender Faktor (BAFF), Interleukin 1B (IL-1B), Tumornekrosefaktor alpha (TNF-ɑ), Interleukin 6 (IL-6) und Interleukin 8 (IL-8) aktiv ist. Mastzellen und ihre Mediatoren, wie der plättchenaktivierende Faktor (PAF), spielen in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Rolle, indem sie durch die Interaktion zwischen Immunkomplexen aus lebensmittelspezifischem IgG und der Komplementaktivierung die Degranulation und die Freisetzung chemischer Mediatoren auslösen. Einmal aktiviert, sind Mastzellen in der Lage, eine Vielzahl von Mediatoren freizusetzen, die die Erregbarkeit sowohl der intrinsischen enterischen Neuronen erhöhen, die die Motilität und Sekretion regulieren, als auch der afferenten extrinsischen Neuronen, die auch Schmerzsignale an das zentrale Nervensystem weiterleiten. Auf der Grundlage dieser Studien war es möglich zu verstehen, wie der wiederholte tägliche Verzehr bestimmter Lebensmittelgruppen auf individueller Basis den Anstieg einer chronischen, niedriggradigen Entzündung auslösen und dann auf direkte oder indirekte Weise die Entstehung oder Aufrechterhaltung chronischer Entzündungskrankheiten wie des Reizdarmsyndroms fördern kann. Es ist bekannt, dass Patienten mit Reizdarmsyndrom dazu neigen, veränderte Konzentrationen von lebensmittelspezifischem IgG zu haben. Durch die Messung der lebensmittelspezifischen IgG-Spiegel, deren Anstieg proportional zum Verzehr bestimmter Lebensmittel ist, können die persönlichen Essgewohnheiten und die Belastung durch Lebensmittelantigene bewertet werden. Ein personalisierte Ernährungsplan kann daraus abgeleitet werden, der darauf abzielt, diese Belastung auszugleichen und die systemische Entzündung zu verringern. In einer klinischen Studie mit 30 Reizdarm-Patienten wurde die kurzfristige Veränderung von BAFF, PAF und lebensmittelspezifischem IgG nach einem personalisierten Ernährungsansatz bestimmt. Gleichzeitig wurden die Reizdarm-Symptome anhand eines validierten Fragebogens erfasst und mit der Ernährungsumstellung in Verbindung gebracht. In diese Studie wurden 30 Patienten mit der Diagnose Reizdarmsyndrom eingeschlossen, deren Entzündungsmarker zu Beginn und nach einer sechswöchigen Ernährungsintervention gemessen wurden. Die Probanden wurden in einer ambulanten Allgemeinpraxis überwacht und eine Ernährungsberatung wurde über zwei Telefonsitzungen mit einer Ernährungsberaterin angeboten. Auf der Grundlage der lebensmittelspezifischen IgG-Messung wurde für jeden Probanden ein personalisiertes Lebensmittelprofil erstellt, in dem 1 bis 3 relevante Lebensmittelgruppen/ Nahrungscluster identifiziert wurden. Die Probanden wurden dann angewiesen, die in ihrem persönlichen Lebensmittelprofil hervorgehobenen Lebensmittel an bestimmten Tagen der Woche zu meiden und sie nur bei 7 der 21 Mahlzeiten der Woche (zwei volle Tage und eine weitere Mahlzeit nach Wahl) zu sich zu nehmen. Auf diese Weise wurde jeder Proband angewiesen, die (in seinen persönlichen Ergebnissen hervorgehobenen) Lebensmittelgruppen einzuschränken, die in seiner üblichen Ernährung häufiger konsumiert werden (z. B. Gluten, Milchprodukte,), was den Verzehr von Lebensmitteln aus verschiedenen Lebensmittelgruppen erzwingt und somit die Variabilität der Ernährung erhöht. Die Einhaltung dieses Planes, d. h. die Vermeidung der im persönlichen Profil aufgeführten Lebensmittelgruppen für mindestens einen ganzen Tag, war der entscheidende Faktor für die Verringerung der IBS-Symptome und des lebensmittelbedingten IgG. Bei der Ernährungsumstellung wurde keine Kalorienbeschränkung auferlegt. Alle Probanden beendeten den 6-wöchigen Studienzeitraum, aber nur 13 erreichten eine ausreichende Compliance mit der vorgeschlagenen Ernährungsumstellung. Bei den Probanden, die die Anforderungen erfüllten (Compliant, C), und denjenigen, die sie nicht erfüllten (Non-compliant, NC), gab es zu Studienbeginn keine signifikanten Unterschiede, so dass die Ergebnisse zwischen ihnen aufgeteilt werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuzeigen. In beiden Gruppen unterschied sich der BAFF-Wert zwischen dem Ausgangswert und dem Ende der Studie nicht: Auch bei den PAF-Werten gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen C- und NC-Patienten. Die nahrungsmittelspezifischen IgG-Werte sanken vor allem bei den Patienten mit guter Compliance (durchschnittliche Reduktion von 9,42 IU/mL) im Vergleich zu Patienten mit geringerer Therapietreue (durchschnittliche Reduktion von 7,77 IU/mL). Die Reizdarm-Symptomatik (Auswertung von Fragebögen) verringerte sich in beiden Gruppen signifikant: bei den C-Patienten von 245 auf 110 und bei den NC-Patienten von 250 auf 100. Ziel dieser Studie war es, die kurzfristige Veränderung von BAFF, PAF, nahrungsmittelspezifischem IgG und der Schwere der Symptome nach einem personalisierten Ernährungsansatz bei Reizdarmpatienten zu bestimmen. Die Ergebnisse zeigten die rasche Wirksamkeit eines individualisierten Ernährungskonzepts auf die Symptome des Reizdarmsyndroms und eine prompte Senkung der lebensmittelspezifischen IgG-Werte. Dies könnte auf eine breitere Anwendung dieses Ansatzes hindeuten, auch unter Einbeziehung der Fernberatung, die eine einzigartige Flexibilität und einen gezielteren Einsatz von Ressourcen bietet. Quellen: 1. Zeng, Q. et al. Variable Food-Specific IgG Antibody Levels in Healthy and Symptomatic Chinese Adults. PLoS ONE 8, (2013). 2. Lied, G. A., Lillestøl, K., Valeur, J. & Berstad, A. Intestinal B cell-activating factor: An indicator of non-IgE-mediated hypersensitivity reactions to food? Alimentary Pharmacology and Therapeutics 32, 66–73 (2010). 3. Kang, S. et al. IgG-Immune Complexes Promote B Cell Memory by Inducing BAFF. The Journal of Immunology 196, 196–206 (2016). 4. Ligaarden, S. C., Lydersen, S. & Farup, P. G. IgG and IgG4 antibodies in subjects with irritable bowel syndrome: A case control study in the general population. BMC Gastroenterology 12, (2012). 5. Stakenborg, N., Viola, M. F. & Boeckxstaens, G. E. Intestinal neuro-immune interactions: focus on macrophages, mast cells and innate lymphoid cells. Current Opinion in Neurobiology 62, 68–75 (2020). 6. Simrén, M. & Öhman, L. Pathogenesis of IBS: Role of inflammation, immunity and neuroimmune interactions. Nature Reviews Gastroenterology and Hepatology 7, 163–173 (2010). 7. Ng, Q. X., Soh, A. Y. sen, Loke, W., Lim, D. Y. & Yeo, W.-S. The role of inflammation in irritable bowel syndrome (IBS). J Inflamm Res 11, 345–349 (2018). 8. Chey, W. D., Kurlander, J. & Eswaran, S. Irritable bowel syndrome: A clinical review. JAMA – Journal of the American Medical Association 313, 949–958 (2015). 9. Barbara, G. et al. The immune system…