Selen ist ein essentielles Spurenelement. Es ist in Selenocystein enthalten, die Aminosäure im aktiven Zentrum des Enzyms Glutathionperoxidase. Dadurch kann Selen eine wichtige Rolle beim Schutz der Zellmembranen vor oxidativer Zerstörung spielen. Selen ist ebenfalls Bestandteil anderer Enzyme, deren Bedeutung zum Teil noch nicht geklärt ist.
In den 50er Jahren wurden in der Tiermedizin Selendefizite bei schwachen Kälbern festgestellt. Später wurde berichtet, dass Selen der Muskeldystrophie von Lämmern vorbeugt. Eine vorrangige Rolle des Selens ist im Glutathionperoxidase-System (GSH-Px) zu finden. Das GSH-Px zerstört die während des normalen Fettstoffwechsels gebildeten Peroxide (radikale Sauerstoffverbindungen), die, wenn sie ungehindert in der Zelle verbleiben, Zellwände, Mitochondrien und Gene schädigen können. Selen ist auch an der Entgiftung von Medikamenten oder Toxinen beteiligt. Das sogenannte Selenoprotein P bildet mit potentiell kanzerogenen Schwermetallen wie Quecksilber, Cadmium oder Arsen stabile Metallselenide, die im Magen-Darm-Trakt nicht resorbiert werden können und somit ausgeschieden werden. Die selenabhängigen Peroxidasen sind vor allem in den roten Blutkörperchen (Erythrozyten), Blutplättchen (Thrombozyten) und den Fresszellen (Phagozyten) vorhanden. Selen spielt eine wichtige Rolle bei der Produktion der Schilddrüsenhormone, genauer bei der „Aktivierung“ des Schilddrüsenhormons von Thyroxin (T4) zu Trijodthyronin (T3).
Selen ist Bestandteil eines Enzyms, der Thyroxin-5‘-Dejodase, die für die Entfernung eines Jodatoms aus T4 verantwortlich ist. Durch diese Dejodierung entsteht T3. Ein Selenmangel führt zu einem Mangel an Thyroxin-5‘-Dejodase, wodurch nur noch ein Teil des verfügbaren T4 dejodiert werden kann. Da T3 im Stoffwechsel wirksamer ist, resultiert aus einem T3-Mangel eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose). Eine zusätzliche Einnahme von Selenpräparaten (Natriumselenit) in hohen Dosen von 200 – 300 μg täglich ist nach ärztlicher Abklärung z. B. bei Hashimoto-Thyreoiditis angezeigt, dies kann auch die Entzündungsaktivität reduzieren. Ist die Selenzufuhr unzureichend, kommt es zur Erhöhung des Verhältnisses T4 zu T3 im Serum, was mit Funktionsstörungen der Schilddrüse einhergehen kann.
Selen soll zudem als Aktivator des Immunsystems dienlich sein. Daraus ergibt sich möglicherweise seine tumorhemmende Wirkung. Dies wurde mittlerweile in zahlreichen Studien belegt.
- Bildung von Abwehreiweißen (Antikörper, vor allem Immunglobulin G), gamma-Interferon (Eiweiß, das v. a. antivirale und antitumorale Wirkung entfaltet) und des Tumor-Nekrose-Faktors TNF. TNF ist ein Signalstoff (Zytokin) des Immunsystems, welcher bei lokalen und systemischen Entzündungen beteiligt ist. TNF wird hauptsächlich von Makrophagen (größte Fresszellen, Abwehrzellen) ausgeschüttet. TNF kann den Zelltod (Apoptose), die Zellproliferation, Zelldifferenzierung und Ausschüttung anderer Zytokine anregen. Es löst Fieber aus und ist an der Entstehung der Kachexie bei bestimmten Krankheiten beteiligt.
- Hemmung der Aktivität von Suppressorzellen (gehören zur Klasse der Abwehrzellen und haben eine das Immunsystem bremsende Wirkung)
- Erhöhung der Aktivität der Immunzellen, wie der natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) und zytotoxischen T-Lymphozyten
- Erhöhung der Aktivität der Granulozyten, Steigerung der Phagozytose und Anregung der Produktion von Interferon in humanen Lymphozyten
Im Rahmen der neuerlichen Auswertung von Daten einer Studie kam Saverio Stranges von der Universität in Buffalo zu dem Ergebnis, dass von den 600 Patienten, die Selen einnahmen (tägl. 200 µg), nach fast acht Jahren etwa zehn Prozent an Typ 2-Diabetes erkrankt waren. Bei der Placebo-Kontrollgruppe waren es lediglich sechs Prozent. Bis dato wurde noch keine potentielle Ursache für das erhöhte Diabetes-Risiko gefunden. Hohe Selenkonzentrationen im Blut korrelieren mit dem Risiko, an Diabetes zu erkranken.
Selen und Selenverbindungen sind giftig. Direkter Kontakt schädigt die Haut (Blasenbildung) und Schleimhäute. Eingeatmetes Selen kann zu langwierigen Lungenproblemen führen. Eine Vergiftung durch übermäßige Aufnahme von Selen wird als Selenose bezeichnet. Eine Selen-Aufnahme von mehr als 3.000 µg/Tag kann zu Leberzirrhose, Haarausfall und Herzinsuffizienz führen. Beschäftigte in der Elektronik-, Glas- und Farbenindustrie gelten als gefährdet. Nach anderen Quellen treten schon ab 400 µg/Tag Vergiftungserscheinungen auf wie Übelkeit und Erbrechen, Haarverlust, Nagelveränderungen, periphere Neuropathie und Erschöpfung.
An Hand der hier vorliegenden Daten wird deutlich, dass Verabreichungen von Selen (und anderer Mikro-Makronährstoffe) durch Laboruntersuchungen dokumentiert werden sollten, um sowohl eine Unterversorgung wie auch eine potentiell toxische Überversorgung auszuschließen.
In den Protokoll-Lösungen wird Selen in Form des anorganisch gebundenen Natriumselenits eingesetzt. Dies hat den Vorteil, dass es nach der Resorption sofort und vollständig bioverfügbar ist und somit umgehend zur Selenoproteinsynthese eingesetzt werden kann. Allerdings unterliegt Natriumselenit ab einer Selendosis von 100 µg der Verschreibungspflicht, weshalb die Protokoll N-Lösung optimiert der Rezeptpflicht unterliegt (100 µg Natriumselenit enthalten), während die Protokoll HP-Lösung optimiert und die Protokoll Forte-Lösung optimiert nicht verschreibungspflichtig sind (nur 50 µg Natriumselenit enthalten).
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